aus "Momo" von Michael Ende.
Beppo der Strassenkehrer
Momo hatte zwei allerbeste Freunde, die jeden Tag zu ihr kamen und alles mit ihr teilten, was sie hatten. Der eine war jung, der andere war alt. Und Momo hätte nicht sagen können, welchen von beiden sie lieber hatte.
Der Alte hieß Beppo Strassenkehrer. In Wirklichkeit hatte er wohl einen anderen Nachnamen, aber da er von Beruf Strassenkehrer war und alle ihn so nannten, nannte er sich selbst auch so. Beppo war ungewöhnlich klein und ging obendrein immer ein bisschen gebuckt, sodass er Momo nur wenig überragte. Seinen großen Kopf, auf dem ein kurzer weisser Haarschopf in die Höhe stand, hielt er stets etwas schräg, und auf der Nase trug er eine kleine Brille.
Manche Leute waren der Ansicht, Beppo Strassenkehrer sei nicht ganz richtig im Kopf. Das kam daher, dass er auf Fragen nur freundlich lächelte und keine Antwort gab. Er dachte nach. Und wenn er eine Antwort nicht nötig fand, schwieg er. Wenn er aber eine für nötig hielt, dann dachte er über diese Antwort nach. Manchmal dauerte es zwei Stunden, mitunter aber auch den ganzen Tag, bis er etwas erwiderte. Inzwischen hatte der andere natürlich vergessen, was er gefragt hatte, und Beppos Worte kamen ihm wunderlich vor.
Er fuhr jeden Morgen lange vor dem Tagesanbruch mit seinem alten, quietschenden Fahrrad in die Stadt zu einem großen Gebäude. Dort wartete er in einem Hof zusammen mit seinen Kollegen, bis man ihm einen Besen und einen Karren gab und ihm eine bestimmte Straße zuwies, die er kehren sollte.
Beppo liebte diese Stunden vor dem Tagesanbruch, wenn die Stadt noch schlief. Und er tat seine Arbeit gern und gründlich. Er wusste, es war eine sehr notwendige Arbeit.
Wenn er so die Straßen kehrte, tat er es langsam, aber stetig:
Bei jedem Schritt einen Atemzug und bei jedem Atemzug einen Besenstrich. Schritt - Atemzug - Besenstrich. Schritt - Atemzug - Besenstrich.
Dazwischen blieb er manchmal ein Weilchen stehen und blickte nachdenklich vor sich hin. Und dann ging es wieder weiter mit Schritt - Atemzug - Besenstrich - - -.
Während er sich so dahin bewegte, vor sich die schmutzige Straße und hinter sich die Saubere, kamen ihm oft große Gedanken. Aber es waren Gedanken ohne Worte, Gedanken, die sich so schwer mitteilen ließen wie ein bestimmter Duft, an den man sich nur gerade noch erinnert, oder wie eine Farbe, von der man geträumt hat.
Nach der Arbeit, wenn er bei Momo saß, erklärte er ihr seine großen Gedanken. Und da sie auf ihre besondere Art zuhörte, löste sich seine Zunge, und er fand die richtigen Worte.
»Siehst du, Momo«, sagte er dann zum Beispiel, »es ist so: Manchmal hat man eine sehr lange Straße vor sich. Man denkt, die ist so schrecklich lang; das kann man niemals schaffen, denkt man.«
Er blickte eine Weile schweigend vor sich hin, dann fuhr er fort:
»Und dann fängt man an, sich zu eilen. Und man eilt sich immer mehr. Jedesmal, wenn man aufblickt, sieht man, dass es gar nicht weniger wird, was noch vor einem liegt. Und man strengt sich noch mehr an, man kriegt es mit der Angst, und zum Schluss ist man ganz außer Puste und kann nicht mehr.
Und die Straße liegt immer noch vor einem. So darf man es nicht machen. «
Er dachte einige Zeit nach. Dann sprach er weiter:
»Man darf nie an die ganze Strasse auf einmal denken, verstehst du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur an den nächsten. «
Wieder hielt er inne und überlegte, ehe er hinzu fügte:
»Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein. « Und abermals nach einer langen Pause fuhr er fort:
»Auf einmal merkt man, dass man Schritt für Schritt die ganze Straße gemacht hat. Man hat gar nicht bemerkt wie, und man ist nicht außer Puste. «
Er nickte vor sich hin und sagte abschließend:
»Das ist wichtig.«